Der Prophet

Geht es nach den Verunglimpfungen, mit denen sich Zivildienstleistende heute konfrontiert sehen, kehrt der Kalte Krieg zurück, schreibt Pedro Lenz.

Unser Jugendfreund B., der gerade das Gymnasium erfolgreich abgeschlossen hatte, musste 1984 ins Schloss Burgdorf zum Prozess wegen Militärdienstverweigerung. Er bat seine Freunde, ihn an den Prozess zu begleiten. Wir waren eine Gruppe junger Männer, die gerne Zivildienst geleistet hätten, dies aber nicht tun konnten, weil in der Schweiz einen solcher Dienst noch gar nicht existierte. Es gab zu jener Zeit, nur zwei Möglichkeiten, den Militärdienst zu umgehen: Medizinische Ausmusterung oder Militärdienstverweigerung. Also blieb denen, die nicht krank waren, nur noch die Wahl zwischen RS und Militärgericht. B. hatte sich für Letzteres entschieden. Zu Beginn des Prozesses liess der Militärrichter zwei Berichte über B vorlesen. Ein Bericht hatte B.s Vater verfasst. Darin hiess es, B. sei von früher Kindheit an verantwortungsbewusst und sozialkompetent. Der Vater schrieb, er sei überzeugt davon, dass sein Sohn aus Gewissensnot handle. Ausserdem sei er sicher, dass sein Sohn bereit gewesen wäre, einen Dienst an der Gesellschaft zu leisten, aber eben nicht als Angehöriger der Armee. Ähnlich klang der Bericht von B.s Klassenlehrer am Gymnasium. B. sei immer positiv aufgefallen, schrieb der Lehrer. B. sei fleissig, kooperativ, gesellschaftlich engagiert, und er habe einen grossen Teil seiner Ferien in freiwilligen Zivildiensteinsätzen im In- und Ausland verbracht. Wir hörten beide Berichte und waren überzeugt davon, dass diese durchwegs positiven Aussagen unserem Freund zu einem Freispuck verhelfen würden. B. selbst beantwortete auch die absurdesten Fragen höflich. Sogar als ihn der Auditor fragte, ob er, angenommen er würde mit seiner Freundin durch den Wald spazieren und die Freundin würde von einem Fremden vergewaltigt, nicht auch bereit wäre, sie mit Gewalt zu verteidigen, blieb B. ruhig. Diese Frage könne er nicht beantworten, da er keine Freundin habe. B. erklärte nachdrücklich, dass er bereit wäre, Zivildienst zu leisten, dass er aber aus persönlicher Überzeugung keinen Militärdienst leisten könne. B.s klares und sicheres Auftreten, seine Ehrlichkeit und die guten Berichte der Erziehungspersonen bestärkten uns im Glauben, dass er eine sehr milde Strafe oder einen Freispruch erwarten dürfe. Bevor es dann allerdings zur Urteilsverkündung kam, erklärte der Militärrichter, es gäbe unter denen, die sich vor dem Militärdienst drücken wollten, drei Gruppen. Der Richter nannte diese drei Gruppen die drei «P»: «Patienten, Parasiten und Propheten». Da es sich bei B. nicht um einen Kranken handle und da im Lauf der Verhandlung klargeworden sei, dass B. sich nicht parasitär verhalte, dürfe er zu den «Propheten» gezählt werden.

Wir jubelten innerlich, glaubten wir doch, der Richter hätte damit etwas Positives über B. gesagt. Doch dann fuhr der Richter fort: «Die Propheten sind die schlimmsten Verweigerer, den anders als Patienten oder Parasiten haben sie einen zersetzenden Einfluss auf ihre Umgebung.»

B. wurde zu sieben Monaten Gefängnis unbedingt verurteilt. Er sass zwei Drittel der Strafe ab. Und als er wieder draussen war, engagierte er sich jahrelang weiter für den Zivildienst.Die gesellschaftliche Akzeptanz des Zivildienstes war der Erfolg eines geduldig und hartnäckig geführten Kampfes. Doch nun kehrt der Kalte Krieg zurück. Wie sonst ist zu erklären, dass junge Männer, die den Zivildienst dem Militärdienst vorziehen, über 30 Jahre nach B.s Prozess wieder als «Propheten», «Drückeberger» oder «Abschleicher» verunglimpft werden?