Gegen die «Allesfresserdemokratie»

1969 verteidigt der Philosoph Hans Saner den wegen Dienstverweigerung angeklagten Schriftsteller Christoph Geiser. Ein wegweisender Fall. Simon Morgenthaler berichtet aus dem Schweizerischen Literatturarchiv.

Hans Saner, Assistent von Karl Jaspers, promoviert 1967 an der Universität Basel. Für seine Dissertation «Kants Weg vom Krieg zum Frieden» erhält er ein Jahr später den Hermann-Hesse-Preis. Saner steht am Anfang seiner Karriere, er steht aber auch am Anfang seines eigenen «Weges zum Frieden» – ein Weg, der ihn ganz unakademisch in ein engagiertes und lebensnahes Philosophieren führen wird. Jaspers vermittelt seinen Assistenten an die Familie Geiser, die einen Nachhilfelehrer für die beiden Söhne Christoph und Thomas sucht. Saner sagt zu und wird nicht etwa zum schulmeisterlichen Popanz der beiden, sondern zum Gesprächspartner, zum Mentor. Saner bringt die Brüder auf Bert Brecht, besonders für Christoph Geiser wird diese Lektüre prägend. Geiser, der sich schon als Gymnasiast publizistisch und politisch betätigt, veröffentlicht 1968 seinen ersten Gedicht- und Prosaband, wird Mitbegründer der Literaturzeitschrift «drehpunkt». Aber auch journalistisch ist er umtriebig, etwa als Redaktor bei der nonkonformistischen «Neutralität». In dieser Zeit wird Geiser als Rekrut ausgehoben, Sanitäter. Den Marschbefehl für die RS retourniert er: Er müsse aus Vernunftgründen jeglichen Militärdienst verweigern.

Philosoph als Privatverteidiger
Diese Entscheidung kommt nicht unvermittelt. Die 1968er toben und im Hintergrund wütet der Vietnam-Krieg. Geiser liest militärstrategische Schriften, setzt sich mit dem Thema der Massenvernichtung auseinander. Wesentlicher Anstoss für seine Verweigerung ist Saners Rede, die dieser 1968 in Karlsruhe anlässlich der Verleihung des Hermann-Hesse-Preises vor namhaften Vertretern aus Politik und Militär gehalten hat. In ihr führt Saner den Staat unverblümt als Kriegssystem vor und fordert in der Konsequenz seiner philosophischen Argumentation die Abschaffung der Armee. Dieser Mut hat Geiser, der eine ebenso dringliche Rezension dieser Rede verfasst, überzeugt. Ein zentraler Satz von Saners Appell lautet: «Es darf kein Krieg mehr sein!» Und so ist es nur folgerichtig, dass der Philosoph Saner als Privatverteidiger Geisers antritt.

Am 1. Dezember 1969 wird Geiser wegen Dienstverweigerung vor dem Divisionsgericht 10B auf Schloss Thun der Prozess gemacht. Saner, der im Oktober 1969 noch einen WK als Füsilier absolvieren muss, stellt dabei – auf bewilligten Antrag in Zivil gekleidet – die Frage, ob Politik etwas mit dem Gewissen zu tun habe.

Wenn seit der Gesetzesrevision von 1967 neben religiösen auch ethische Gründe als strafmildernd anerkannt werden, so insistieren Geiser und Saner auf einer politischen Begründung. Die Tatsache, dass die totale Zerstörung der Menschheit durch Massenvernichtungswaffen möglich ist, lasse – so Saner – nunmehr die Aussage zu, dass kein Krieg mehr sein darf. Aus politischer Vernunft bedeutet dies, «den Krieg, seine Werkzeuge und Ursachen radikal zu verwerfen», also auch die Armee. Und Geisers Mittel, dieser Überzeugung Nachdruck zu verleihen, sei die Verweigerung.

Das Gericht folgt Saners Argumentation und anerkennt Geisers Begründung als einer religiösen gleichwertig. Der Auditor meldet Kassation an. Es soll kein Präzedenzfall geschaffen werden. Auch die Rede von einer «Allesfresserdemokratie» in Geisers Verweigerungserklärung ist ihm im Hals stecken geblieben. Das Kassationsgericht gibt dem Auditor Recht und verurteilt Geiser zu vier Monaten Gefängnis statt Haft. Auch Saners Frage ist beantwortet: Das Gericht bekenne sich, wie er schreibt, aus politischen Gründen dazu, «dass Politik mit dem Gewissen nichts zu tun hat» und liefere damit indirekt auch das Bekenntnis, «dass dieses politische Urteil gewissenlos» sei.Saner rüttelt mit seiner Beweisführung an den Fundamenten eines demokratischen Systems, das sich seiner Grundsätze allzu sicher ist. Und er tut dies als überzeugter Verfechter der Demokratie. Noch bevor Geiser im August 1970 seine Strafe antritt, reicht Saner mit ihm zusammen eine Petition zur Abschaffung der Militärgerichtsbarkeit ein, die es bis vor den Bundesrat schafft. Es ist die demokratische Reaktion auf eine Militärjustiz, die ihre Eigenmächtigkeit auf Schloss Thun selbst ad absurdum geführt hat.

Fin de partie?
Bis der Zivildienst als Alternative zur Verweigerung möglich wird, werden noch fast fünfundzwanzig Jahre vergehen. Weitere Prozesse, Provokationen und die von Münchensteiner Lehrern lancierte Zivildienst-Initiative sind in den 1970ern die Marksteine auf diesem Weg. Auch für die beiden Protagonisten fällt der Prozess in eine biographische Schwellenzeit.

Saner erhebt immer wieder seine Stimme. Dass Peter Bichsel 1970 öffentlich die Verteidigung des Dienstverweigerers Peter Wehren verweigert, um mit diesem zusammen der Militärjustiz ein trotziges «Macht euren Dreck alleine!» entgegenzuschleudern, ist Saner zu einfach. Erst durch das Mitspielen, so Saners Antwort, kann ein Stück Öffentlichkeit in die Prozesse jenes Gerichts eindringen, das so gerne für sich alleine ist: «Der Dreck wird so lange ein Dreck bleiben, als man den Herren gestattet, ihn alleine zu machen, und sich darüber hinwegtäuscht, dass man immer schon in ihm sitzt.» Es ist das Votum eines Nachdenklichen, der es sich weder in der Demokratie noch in der Kritik dieser Demokratie hat bequem machen wollen.

Saner wagt den Grenzgang zwischen akademischer Philosophie und gesellschaftspolitischem Engagement. Er publiziert und referiert unermüdlich zu brisanten, aktuellen Themen und wirkt als Hochschulehrer. So nimmt er früh Stellung zu Tabus wie dem Schwangerschaftsabbruch oder Aids, in seiner essayistischen Tätigkeit beschäftigt er sich intensiv mit der Friedensforschung oder der Europafrage. Seine Nicht-Berufung als Professor an die Universität Bern 1979 ist wohl nicht zuletzt auf dieses Engagement zurückzuführen – und führt zu studentischen Protesten. In seiner Dissertation findet sich der Satz: «Philosophie beginnt im Streit. Aber sie will Frieden.» Dass Streit produktiv sein kann, hat Saner bis zu seinem Tod 2017 beharrlich bewiesen.

«Mitteilung an Mitgefangene»
In der Strafanstalt Oberschöngrün schreibt Geiser seinen zweiten Lyrikband «Mitteilung an Mitgefangene» fertig. Er habe – so resümiert er später – den Militärdienst verweigert, weil er «die Taktik der Igel im Kampf gegen Autos für Selbstmord halte.» Geisers politische Offensive – er war zeitweise Mitglied der PdA – wird immer mehr zur literarischen Opposition gegen eine bigotte Bürgerlichkeit. Die Sprache wird zum Refugium und Motor seines Widerstands. Sie wird ihm zum Mittel, sich nicht nur von bürgerlichen und unbürgerlichen Tabus und Konventionen loszuschreiben, sondern auch als ein Unbequemer weiter gegen diese anzuschreiben. Nicht mit der Keule der Moral, sondern mit literarischen Mitteln. In «Das falsche Inseli – ein Abschied» (2005) erinnert sich der Erzähler an den Prozess, spricht von «Heimatliebe, quasi kritischer». Was ihm aber als Erstes auffällt, ist ein fehlendes E in der Anschrift über dem Eingang: «Geschwornengerichtssaal» steht dort. Mit der Aufmerksamkeit für dieses fehlende E lässt Geiser die Rechtmässigkeit einer Justiz, die sich (orthografisch) an sich selber verschluckt, kollabieren. Sie führt sich selber vor. In einer der Erzählungen in seinem neusten Buch «Verfehlte Orte» (2019, Secession-Verlag) wird in Berlin für eine Ausstellung der Kopf einer riesenhaften Leninstatue aus DDR-Zeiten exhumiert; zuständig ist ein Oberförster namens Marx. Dieses kuriose Setting wird für den Autor zum Anlass einer hochironischen Ausgrabung seiner eigenen politischen Vergangenheit. Uns mit ernster Heiterkeit auf solche Vorführungen zu stossen, wird Geiser bis heute also  nicht müde.

Simon Morgenthaler, geb. 1981 in Bern, wohnhaft in Basel, promovierter Literaturwissenschaftler und Autor, momentan als Mitarbeiter im Editionsprojekt zu Dürrenmatts «Stoffen» tätig. Für das Militär gänzlich, untauglich leistete er eine Zeitlang beim Kulturgüterschutz Dienst.