Zivis verdienen Respekt

Roger E. Schärer, ehemaliger Milizoberst und Berater von Johann Schneider-Ammann, beantwortet die Fragen der LMC. Die Fragen stellte Gregor Szyndler.

Warum geben Sie als Oberst a. D. der «Le Monde Civil» ein Interview?
Ich habe 1991 Diensttage geleistet, die in meinem Dienstbüchlein eingetragen sind. Für diese bin ich dankbar und stolz darauf. Als Akademiker und Direktor habe ich eine beeindruckende soziale Schule erfahren dürfen. Ich habe in der Führungspraxis in der Armee erlebt, dass die Schweiz wegen wertorientierten, zuverlässigen, lebenstüchtigen Handwerkern, Bauern und Arbeitern funktioniert. Diese geerdeten Armeeangehörigen führen zu dürfen, war ein grosses Privileg. Ich war nach meiner Zeit als Truppenkommandant als Milizoberst in der Direktion für Sicherheitspolitik im VBS und habe internationale Kontakte gepflegt. Das Milizsystem hat sich bewährt, ich konnte mein berufliches nationales und internationales Netzwerk für die Sicherheit der Schweiz erfolgreich einsetzen. Meine bisherigen Standpunkte zum Zivildienst in den Medien sind von «Le Monde Civil» bemerkt worden. Man hat mich überzeugend angefragt und ich freue mich meine Einschätzungen zum Zivildienst und seiner Zukunft in diesem Interview zu kommunizieren.

Ärgert es Sie, wenn ein Zivi Sie fragt, was ein «Oberst eigentlich den ganzen Tag lang macht»?
Überhaupt nicht! Es ist absolut legitim und Neugier ist angebracht. Tatsächlich gibt es heute weniger Obristen, die Regimenter wurden aufgehoben, dieser Dienstgrad ist nun viel mehr in der Administration und den Stäben tätig.

Mit welchen Gefühlen schauen Sie auf den Zivildienst?
In der Frage des Zivildienstes geht es bei mir nicht um Gefühle, sondern um unsere Verfassung. Art. 59 legt die Grundlage zum Zivilen Ersatzdienst fest. Es geht mir um unsere Zivilgesellschaft und die direkte Demokratie. Diese hat mit einer Volksabstimmung 1991 gutgeheissen, dass Militärdienstverweigerer aus Gewissens- und Glaubensgründen zukünftig einen Arbeitsdienst leisten können. Das Ende des Kalten Krieges machte eine mehrheitsfähige Erkenntnis erst möglich, den Dienstverweigerern mit Blick auf den staatstragenden eidgenössischen Konsens eine gesetzliche Verankerung zu geben. Die bisherigen Gefängnisstrafen waren einer humanitären Schweiz nicht würdig. 1992 wurde die Neufassung des Verfassungsartikels mit über 82 % der Stimmen angenommen. Das war ebenfalls ein Ausdruck eines tragfähigen Kompromisses, wie diese glücklicherweise in unserem Staatswesen noch möglich sind. Die über zwanzigjährige Geschichte des Zivildienstes begleitet den gesellschaftlichen Wandel und die sich veränderten Sicherheitsbedürfnisse der Bevölkerung.

Sie waren Berater von alt Bundesrat Schneider-Ammann. Dieser schrieb in LMC 16/01: «Die Stärken des Zivildienstes gilt es auszubauen, nicht zu beschränken.» Wie erlebten Sie Schneider-Ammanns Umdenken?
Den Nationalrat, Swissmem-Präsidenten und Unternehmer Johann Schneider-Ammann habe ich 2005–2010 als enger Berater in den Bundesrat begleitet. Er ist ein glaubwürdiger, wertorientierter Unternehmer und Politiker und eine überzeugende Persönlichkeit. In seinem Departement war der Zivildienst angesiedelt. Er hat den Wert der Zivildienstleistenden erkannt, als er dafür plädierte, die Stärken des Zivildienstes auszubauen, nicht zu beschränken. Dass er gegen das Ende seiner Bundesratszeit eine andere Haltung zeigte, hat mit Interna und politischen Gegengeschäften des Bundesrates zu tun. Wie heisst es doch: «Manus lavat Manum»! Nun hat der ehemalige und fahnenflüchtige VBS Chef Parmelin in seinem neuen Departement die Verantwortung für den Zivildienst, was nicht unbedingt ideal ist.

Was sagen Sie dazu, dass der Zivildienst zur Gefahr der Armee-Bestände stilisiert wird?
Die Armeeführung hat den Wandel der Gesellschaft nicht begriffen und ist im Reduit stehengeblieben. Die Bedrohungslage hat sich entscheidend geändert. Die Sicherheitsbedürfnisse der Bevölkerung ebenfalls. Alters- und Arbeitsplatzsicherheit, zahlbare Krankenkassenprämien und Mieten, Bildungs- und Gesundheitssystem, Wohlstand und eine gesunde Umwelt sind priorisiert. Das hat auch mit der Armee, ihren Beständen und der Zunahme von Zivildienstleistenden zu tun. Die Armee muss attraktiver werden, die besten Kader und nicht Ersatzkarrieristen müssen die Führungsverantwortung tragen. Die Armee ist noch einer der letzten hierarchischen Organisationen, in denen ein beruflich wenig erfolgreicher Mann dank seines Grades Studenten und gut ausgebildeten und erfahrenen Berufsleuten den Militärdienst verleiden kann. Da muss sich die Armee selbst an der Nase nehmen. Die vielen Skandale in Rüstungsfragen und das Verhalten oberster Armeekader belegen das Image der Armee sehr negativ. Unsäglich ist es, wenn wichtige Sicherheitspolitiker im Parlament von einem schleichenden Gift des Zivildienstes reden und damit den Zivildienst an sich zur inneren Gefahr für die Sicherheit der Schweiz stilisieren. Es ist zudem eine meiner politischen Prioritäten, dass endlich auch einmal unsere Schweizer Frauen Zivildienst leisten können.

Welchen Rat geben Sie dem Chef der Armee Philippe Rebord, der ein mögliches Referendum zu den Zivildienst-Verschärfungen als «Scheissabstimmung» bezeichnete?
Es geht nicht an, dass ein eher intellektuell geprägter Armeechef wie Rebord rhetorisch mit seiner Fäkalsprache in die unterste Schublade greift. Eine Volksabstimmung ist ein direktdemokratisches Instrument, das von uns allen höchsten Respekt verlangt und die Schweiz als Willensnation mit ihren föderalen Strukturen erfolgreich gemacht hat. Sollte der Zivildienst gemäss den Vorschlägen verschärft werden, ist ein Referendum so sicher wie das Amen in der Kirche. Die Reduit-Politiker und die kalten Krieger werden dafür sorgen, dass die Abstimmung für sie verlorengeht. Dabei wird diese Abstimmung, die viel mehr staats- und gesellschaftspolitisch wichtige Elemente enthält als andere Rüstungsgeschäfte und Armeeabstimmungen, mit weit über 60 % von den Referendums-Initianten gewonnen. Gleichzeitig wird die öffentliche Diskussion wichtige sicherheits- und armeepolitische Themen wahrnehmungsstark überdecken.

Was sagen Sie einem Offizier-Kandidaten, der sich entscheidet, seine Dienstpflicht als Zivi zu beenden?
Dieser Offiziersaspirant bringt seine Überzeugung ein, macht eine persönliche Lagebeurteilung und entscheidet sich. Früher war ein Offizier, der für seine Überzeugung und den Entschluss, den Dienst zu verweigern, ins Gefängnis ging, noch mutiger. Wobei es heute in der Wirtschaft kein Nachteil mehr ist, keine militärische Karriere zu haben.

Das schweizerische Milizsystem liegt Ihnen am Herzen. Wo sehen Sie Gefahren?
Das Milizsystem ist gefährdet. Immer mehr beruflicher Druck und private Herausforderungen lassen es immer weniger zu, sich für die «Res publica» in Politik und Armee einzusetzen. Gemeinden finden kaum mehr Gemeinderäte. Auch die Armee hat Schwierigkeiten, beruflich erfolgreiche Kader zu finden. Es ist auch auf eidgenössischer Ebene im Parlament eine gefährliche Entwicklung, dass wir immer mehr Berufspolitiker haben. Das Einbringen beruflicher und menschlicher Erfahrungen von gestandenen Führungspersönlichkeiten in Politik und Armee ist entscheidend für unser Milizsystem. Das Milizsystem ist eine strategische Erfolgsposition für die Zukunft unserer Schweiz.
Wo sehen Sie das schweizerische Dienstsystem in 20 Jahren?
In 20 Jahren werden wir Rettungs- und Sanitätstruppen sowie Logistik und Territorialinfanterie haben. Nur Spezialisten aus der Miliz werden Dienst leisten. Ein Massenheer mit 100’000 wird nicht mehr möglich sein. Russland, Europa und die USA werden sich wirtschaftlich und sozial- sowie gesellschaftspolitisch eine Eskalation der Rüstung nicht mehr leisten können. Die Digitalisierung der Armee und die Entwicklung der Technologie erfordert von der Schweiz Anpassungen, ohne Nato-Beitritt oder Teilnahme an der europäischen Sicherheitsstruktur. Die Reduit-Politiker und kalten Krieger können mit nicht einsatzfähigen Minenwerfern für 400 Millionen, Duro-Kampfwert-Steigerungen für 500 Millionen und einem Führungs- und Informationssystem, für das wir 800 Millionen in den Sand setzten, nicht überzeugen. Wir müssen enorm in Digitalisierung, Cyberdefense, Terrorabwehr, Soziales und Infrastrukturen investieren und unsere Neutralitätspolitik für Friedens-Bemühungen in der Welt einsetzen. Die Bundesverfassung verlangt die Sicherheit und Freiheit der Schweiz. Der Wandel und die veränderten Rahmenbedingungen sind zu berücksichtigen.

Sie sind Shakespeare-Kenner. Heisst es für die Wehrgerechtigkeit 2019 «to be or not to be» oder «our revels now are ended» [«Unsere Schwärmereien sind nun vorbei»]?
Ja, ich liebe Shakespeare. Aber ich bin nicht Macbeth, der Hexen über die Zukunft befragen muss und ich besitze keine Kristallkugel. Aber ich bin überzeugt, dass Vernunft, die Rahmenbedingungen und die internationale Entwicklung mit Blick auf die Wehrgerechtigkeit überwiegen werden. Die Giftmischer und Eiferer der rechten Ecke werden noch einmal froh sein, wenn sie im hohen Alter von einem Zivi im Rollstuhl auf einen ehemaligen Schiessplatz in die Natur geführt werden. In 25 Jahren fehlen 15’000 Altenpfleger! Zivis sind beeindruckende Dienstleister und verdienen unseren Respekt.

Roger E. Schärer ist Oberst a. D. und war u. a. Berater von alt Bundesrat Johann Schneider-Amman.