«Weg von dieser Leerlauf-Debatte!»

Noémie Roten setzt sich für den Service Citoyen ein. Im Interview berichtet sie von Bürger-Engagement und Milizgeist sowie von Vorteilen einer neu gedachten, nicht mehr rein männlichen Wehrpflicht. Die Fragen stellte Gregor Szyndler.

Wenn Sie den Service Citoyen in 5 Sätzen bewerben müssten, was sagen Sie?
Es geht um das Bürgerengagement im Staat. Wir wollen den Milizgeist revitalisieren. Es ist eine Ausweitung der aktuellen, rein männlichen Wehrpflicht in einen ­allgemeinen Bürgerdienst für alle. Nach dem Motto: «Wir sind der Staat»; wir sind Mit­machbürgerInnen. Wir wollen mitmachen und uns für unsere Gesellschaft engagieren – es geht um eine Ausdehnung auf Frauen und, möglicherweise, Ausländer.

Warum braucht es einen Service Citoyen?
Der Milizgeist ist ein Erfolgsfaktor unseres politischen Systems. Dieser Gedanke muss revitalisiert werden. Der Service Citoyen trägt dazu bei, dass das Engagement in der Zivilgesellschaft an Wert gewinnt.

Warum mehr Pflicht und Zwang?
Ich sehe es nicht als mehr Pflicht oder Zwang. Es geht darum, mehr Wahlmöglichkeiten zu geben darüber, in welcher Form man sich für die Gemeinschaft engagieren will. Heute sind die Anforderungen des Arbeitsmarkts oft so hoch, dass viele Leute, die sich gerne engagieren würden, es nicht können. Es muss einen gesicherten Rahmen für dieses Engagement geben. Es geht auch um die bessere Anerkennung von bereits stattfindendem Engagement. Wir Frauen sind keine Bürger zweiter Klasse – [zögert] Stichwort: «unbezahlte Freiwilligenarbeit».

Warum zögern Sie bei diesem Wort?
Weil es mich stört! Es ist ein Oxymoron: ­«unbezahlte Freiwilligenarbeit»! Entweder ist es Arbeit – dann muss es bezahlt werden. Oder es ist freiwillig – dann handelt es sich nicht um «Arbeit». Diese bereits stattfindende Arbeit wird nicht bezahlt, sprich auch zu wenig anerkannt, weil sie keinen «Wert» hat. Sie sollte aber positiv als Engagement von Frauen für die Gesellschaft dargestellt werden. Wenn man nur einen Bruchteil des bereits stattfindenden Engagements im Rahmen eines Service Citoyen ­honoriert, bekommt diese Arbeit den ihr ­zustehenden Wert und Anerkennung.

Aber geht Ihr Vorschlag nicht auf ­Kosten der «freiwilligen Freiwilligen» – wenn in einem Gemeindeparlament ­einige im Rahmen des Service Citoyen dort wären, andere nicht?
Ich werde oft gefragt, ob ein Bürgerdienst das Freiwilligenengament konkurrenziert. Es gibt Studien, die zeigen, dass Leute sich eher freiwillig engagieren, wenn sie zuvor  im Rahmen eines anderen uneigennützigen Engagements sensibilisiert wurden, wie etwa im Zivildienst. Der Service Citoyen soll eine Kultur des Engagements schaffen und die Solidarität fördern.

Was sind Vorteile Ihres Vorschlags?
Der Milizgeist würde gestärkt. Das Engagement für und in der Gesellschaft würde ­besser anerkannt werden. Die Kohäsion der Schweiz und Solidarität auch zwischen den sozialen Schichten bekämen eine Verstärkung: eine Erneuerung des «Wir-Gefühls». Die Bürger und Bürgerinnen wären wieder im Staat eingebunden und man hätte das nötige Rüstzeug für kommende demografische und ökologische Herausforderungen. Das Einbinden der Frauen würde ihren Weg zur vollwertigen Mitbürgerin ebnen und Ausländer erhielten eine grössere Chance, sich besser zu integrieren.

Was sind die Impulse, die ein Bürgerdienst dem Diskurs um Dienstsystem, Miliz und Wehrgerechtigkeit geben kann?
CIVIVA muss ich ja nicht erklären, wie viele Leute das Militär gegen den Zivildienst ­aus­spielen. Ich befasse mich seit Jahren mit solchen Fragen und finde die Diskussion falsch. Am Ende sind beides Dienste an der Gemeinschaft. Die Leute müssen fürs Eine wie fürs Andere motiviert werden. Wir ­wollen eine Diskussion rund ums gesellschaftliche Engagement. Wir wollen weder das Militär noch den Zivildienst schwächen. Uns geht es darum, den Wert des Engagements generell zu zeigen. Engagement ist Engagement, ob zivil, militärisch oder in der freiwilligen Feuerwehr.

Wie steht ServiceCitoyen.ch zu den ­Verschärfungen des Zugangs zum­ ­Zivildienst?
Wir nahmen an der Stellungnahme zur ­Vernehmlassung teil und drückten unser­ ­Bedauern aus, dass zivilgesellschaftliches Engagement geschwächt wird. Es geht nicht nur um Zivildienst, Armee und Zivilschutz – sondern um Engagement, das der ganzen ­Gesellschaft zugute kommt. Darum wollen wir, dass alle einen Dienst zugunsten von ­Gesellschaft oder Umwelt leisten.

Aber wie sehen Sie die Erschwerung des Übergangs zwischen Armee und Zivildienst?
Den Punkt, den wir nachvollziehen können, ist, dass verhindert werden soll, dass zu viele Leute nach erfolgreicher Ausbildung in der Rekrutenschule (RS) und Einteilung in die Armeebestände in den Zivildienst wechseln.

Dafür wird man doch heute schon ­bestraft – mit mehr Diensttagen!
Trotzdem sind Zivildienst-Gesuche nach ­abgeschlossener RS für die Planungssicherheit der Armee problematisch und ­gefährden die Sicherheit unseres Landes. ­­Die Armee hat in die Ausbildung und Ausrüstung dieser Leute investiert. Sie zählt auf diese Leute. Wir sind dafür, den Leuten von Anfang an mehr Auswahl zu geben, dass sie sich dort einsetzen können, wo ihre Präferenzen ­liegen. Dadurch wird unnötige Bürokratie und Verwirrung in der Planung vermieden.

Wie sollte das gehen?
Die Leute müssen sich genau überlegen, wo sie sich einbringen wollen. Nach der Entscheidung sollen sie auch dort bleiben, wo sie sich entschieden haben.

Sie reden von Wahlfreiheit und wollen den Armee-Bestand garantieren. Wenn sich in einem Jahrgang aber 100 % für einen zivilen Dienst entscheiden, geht es doch wieder nur mit staatlichem Zwang.
Das denken Sie. Ich bin überzeugt, dass es nicht so sein wird. Die Armee hat etwas zu bieten. Persönlich finde ich die Armee ziemlich attraktiv. Ich fand es persönlich ­anziehender, als Soldatin LKW zu fahren als im Pflegeheim zu arbeiten.  Ich verstehe die Debatte um die Attraktivität der Armee nicht, weil ich finde, wenn sie sich ein wenig anstrengen würde, wäre die Armee ziemlich attraktiv. Sportliche und geistige Leistungsfähigkeit sind ja auch ein grosser Vorteil im Arbeitsalltag.

Warum liegt Ihnen das Dienstsystem so am Herzen?
Ich glaube, der Link zwischen Bürger und Staat ist etwas Wertvolles. Dadurch können die Bürger Kontrolle über den Staat ausüben. So bleibt der Staat schlanker und unter Kontrolle der Bürgerinnen und Bürger, und die Motive für ein Engagement sind andere als bei sogenannten Profis. So entsteht auch eine andere Mischung der Schichten und Landesregionen und es gibt mehr Kohäsion. Es ist wahrscheinlich auch weniger teuer als Bürokraten. Das trägt zur Stabilität der ­demokratischen Institutionen bei. Es wirkt der oft behaupteten Entfremdung zwischen Bürgern und Politik entgegen. Mit der Miliz haben alle die Möglichkeit, einen Fuss im Staat zu haben und einen anderen im «normalen Leben».

Wo sehen Sie die gesellschaftlichen ­Herausforderungen, die mit dem Service
Citoyen angegangen werden können?

Im Pflege- und Umweltbereich. Gehen wir diese Herausforderungen nicht an, kriegen wir riesige Probleme. Der Service Citoyen würde genau die Wege und Mittel bieten, diesen Herausforderungen entgegenzutreten.

Aber da hört man ja die die Zivildienst-Gegner förmlich schreien: «Ihr macht den ganzen Tag Spaziergänge mit ­Demenzkranken und pflückt Blumen im Naturschutzgebiet!»
Wer behauptet, die Betreuung von Demenz-kranken sei Entspannung, hat noch nie ­einen dementen Menschen betreut. Das pumpt  alle Energie ab. Das ist zermürbende, wert-volle Arbeit für die Sicherheit und Stabilität. Auf jeden Fall könnte der Zivildienst, sobald er vom Militärdienst abgekoppelt ist, autonom und flexibel organisiert werden, um seine eigenen Ziele besser zu erreichen. Ich glaube, der Zivildienst würde profitieren von einem Service Citoyen. Natürlich kann man die ­Armeebestand-Garantie kritisieren.

Die sticht tatsächlich sehr ins Auge!
Doch heute ist der Zivildienst nur ein ­Ersatzdienst. Mit einem Bürgerdienst wird er als vollwertiger Dienst anerkannt. Allgemein gäbe es eine bessere Anerkennung des zivildienstlichen Engagements. Man muss endlich weg von dieser Leerlauf-Debatte, die Armee und Zivildienst gegeneinander ­aus-spielt. Statt alte Positionen zu wieder­holen, sollten wir die Herausforderungen der Zu-kunft anpacken. Wir streben nach ­einer pragmatischen, konsensuellen ­Ver­besserung des heutigen Dienstpflicht­Systems, die alle Formen von Engagement wieder aufwertet.