«Differenzierte Meinungen sind rar»

Alois Vontobel war während sechs Jahren Mitglied im CIVIVA-Vorstand – im Interview blickt er anlässlich seines Rücktritts aus dem Vorstand auf sein jahrelanges Engagement zurück.

Du warst schon bei der CIVIVA-Vorgänger-Organisation «gruppe schweizer zivildienst» tätig. Wie kam es dazu?
Einerseits hatte ich damals bereits nur noch einen Einsatz zu leisten, wollte dem Zivildienst aber unbedingt verbunden bleiben und kontaktierte daraufhin die GSZ. Zusätzlich bekam ich mit, dass der Nationalrat die Motion 09.3861 «Dauer von Zivildienst und Militärdienst gerecht ausgestalten» angenommen hatte. Die Motion beabsichtigte, den Faktor der längeren Dienstdauer von 1,5 auf 1,8 zu erhöhen. Auf so plumpe politische Versuche, die Deutungshoheit über einen grundmenschlichen Begriff wie Gerechtigkeit an sich zu reissen, musste ich einfach reagieren und schrieb der Motionärin sowie ihren Mit­unterzeichnern eine klare Stellungahme aus Sicht eines aktiven Zivis. Nicht ganz unerwartet bekam ich keine Antwort. Die Motion wurde später von Ständerat ebenfalls kommentarlos versenkt, was mich mit leiser Genugtuung erfüllte.

Du kennst die Diskussionen rund um den Zivildienst aus jahrelangem Engagement. Was hat sich geändert?
Die Diskussionen werden leider noch immer vornehmlich auf politischer statt gesellschaftlicher Ebene geführt. Von daher ist es nicht weiter verwunderlich, dass sie je länger je lauter und unpräziser geführt werden. Differenzierte Meinungen sind rar. Wo der Argumentation Substanz fehlt, wird gerne Angst und Moral ins Feld geführt. Gesellschaftliche Entwicklungen werden so einfach kaltgestellt. Auf der anderen Seite argumentieren gewisse Zivildienstbefürworter auch eher dogmatisch und werten Pragmatismus per se als Zugeständnis an den (politischen) Gegner.

Du hast in LMC 17/01 geschrieben, der Zivildienst habe sich etabliert und das sei potenziell gefährlich. Wie meinst du das?
Durch die konstanten Angriffe in den zwei Jahren seither ist diese Gefahr etwas kleiner geworden. Vielleicht habe ich das damals etwas überschätzt, schätzte die Institution Zivildienst als anerkannter ein, als sie es tatsächlich ist. Beispielsweise hielt ich eine Wiedereinführung der Gewissensprüfung für undenkbar. In der Vernehmlassung zur aktuellen Gesetzesrevision ZDG wurde diese Massnahme von einigen Kantonen sowie militärnahen Interessensgruppen jedoch sehr offen wieder ins Gespräch gebracht.

Siehst du diese Gefahr immer noch?
Teilweise. Für junge Menschen, die sich von Anfang an für den Zivildienst (oder auch gegen die Armee) entscheiden, würde sich gesetzlich nicht viel ändern. Die Möglichkeit, mit einer gewissen Selbstverständlichkeit Zivildienst zu leisten, sofern man den Tatbeweis erbringt, bleibt also bestehen. Die 7 Massnahmen des Bundesrates zielen ja mehr auf Leute ab, die aus der Armee, also während oder nach der RS, in den Zivildienst wechseln. Mit kreativen Bestandesaufnahmen macht die Armee Alimentierungsprobleme geltend, deren Ursache jedoch eher bei den medizinischen Abgängen liegt.

Was hat dich bewogen, Zivi zu werden?
In erster Linie die Überzeugung, dass Gewalt nie ein legitimes Mittel sein darf sowie meine skeptische Haltung befehlsartiger Kommunikation gegenüber. Sicherlich ebenfalls eine Rolle hat mein Vater gespielt, der Anfang 70er-Jahre den Dienst verweigerte und deswegen einsass. Generell spielen die Werte, welche einem als Kind und Jugendlichen von den Eltern, dem Umfeld aber aus der Lektüre vermittelt werden, natürlich eine grosse Rolle.

Hattest du noch Gewissensprüfung? Wenn ja, wie war’s?
Ja, diese fand an einem heissen Sommertag im 2004 in Windisch statt. An Details mag ich mich nicht mehr genau erinnern, deswegen versuchte ich vor Kurzem, bei der Zentralstelle ZIVI an das Dossier meiner Gewissensprüfung zu kommen, leider vergebens. Weil mir aber mein Weg in den Zivildienst von Anfang an so klar war, erachtete ich die Hürden wie schriftliche Motiverläuterung, Lebenslauf in Prosa und das Verteidigen meiner Gewissensgründe «nur» als Zwischen-Schritte, als notwendige Übel, die mich nicht aus der Ruhe, geschweige denn meine Überzeugung ins Wanken brachten. Ich vertrat und vertrete noch immer gerne dezidierte, vom Mainstream abweichende Haltungen.

Wo hast du überall Zivildienst gemacht?
Den Ersteinsatz von 26 Tagen leistete ich in der Sonnhalde Gempen, wo ich behinderte Erwachsenen mitbetreute. Danach ergab sich auch aus beruflichen Gründen jeweils ein dreimonatiger Einsatz zu Beginn der Jahre 2009-2012. Dabei war ich sowohl in der Freiplatzaktion Basel wie auch unterwegs mit der Schweizer Tafel auf Menschen am Rande der Gesellschaft traf, deren Geschichten mir manchmal sehr nahegingen. Der grosse Stellenwert, den unsere Gesellschaft in punkto Integration den Faktoren Sprache (zu Recht) und Geld (zu Unrecht) zumisst, wurde mir nochmals verdeutlicht. Zum Schluss habe ich den langen Einsatz zweigeteilt und in den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel in einem Forschungsprojekt mit­gearbeitet sowie die sehr gut ausgestattete, aber nicht mehr so häufig besuchte analoge Fachbibliothek wieder auf Vordermann gebracht.

Was haben deine Zivildiensteinsätze dir gebracht?
Die Fähigkeit, immer wieder Perspektivenwechsel zu vollziehen und nichts für selbstverst­ändlich zu halten. Etwas allgemeiner betrachtet ist mir klargeworden, dass es auf eine Frage nicht immer eine Antwort gibt und eine Wirkung immer mehrere Ursachen hat. Und nicht zuletzt lernte ich viele interessante Menschen kennen, mit einigen von Ihnen verbinden mich heute noch Freundschaften.

Du hast auch schon einmal gesagt, dass du manchmal findest, vor lauter Lobby­arbeit für den Zivildienst dürfen Visionen und neue gesellschaftliche Entwürfe nicht zu kurz kommen. Siehst du das immer noch so?
Ja, sogar noch stärker als zuvor. Die Schnelllebigkeit und der kurzfristige Zeithorizont scheinen nur noch «Heute oder Morgen»-Lösungen zuzulassen. Welchen Nutzen hat eine zukunftsträchtige, selbstlose und momentan vielleicht sogar unpopuläre Idee, wenn sie keinen Egozuwachs in Form von Wählerstimmen oder Follower-Likes generiert? In der Politik zumindest keinen unmittelbaren. Und weil heute nicht nur Berufspolitiker, sondern Hinz und Kunz permanent um die Gunst der Mitmenschen buhlen, ist nur kurzfristiger Erfolg gut genug. Das ist natürlich überspitzt formuliert, im Kern aber meiner Ansicht nach treffend.

Wo siehst du den Zivildienst, wenn euer Kind volljährig ist?
Hier reden wir zum Glück von einem etwas grösseren Zeithorizont. Optimistisch spekuliert gibt es dann nur noch einen Dienst, einen zivilen Sozialdienst, den man uneigennützig für einen besseren Zusammenhalt der Gesellschaft erfüllen darf, frei wählbar zwischen 6 und 18 Monaten, offen für alle jungen Menschen. Der Dienst wird zum natürlichen Entwicklungsschritt auf dem Weg ins Erwachsensein, in die Berufswelt.

Wenn du noch einmal mit Zivildienst anfangen würdest – würdest du dieselben Einsätze machen?
Jein. Ich möchte die gemachten Erfahrungen nicht missen, allerdings hätte ich sehr gerne einen Auslandseinsatz absolviert oder nochmals im Asylbereich gearbeitet. Aus verschiedenen Gründen hat dies nicht geklappt. Aus den Umständen habe ich das Passendste herausgeholt.

Du bist bestens informierter Bob-Dylan-Fan. Welches Liedzitat gibst du dem Zivildienst mit auf den Weg?
Interessante, nicht leicht zu beantwortende Frage! Eine Zeile, die mir immer sehr gefallen hat ist «What looks large from a distance, close-up ain’t never that big.» («Tight connection to my heart»). Im Sinne von besser zuerst einmal warten und beobachten, wie sich die Dinge entwickeln und wie ihr Ausmass im Kontext eingeordnet werden kann. Nicht zu früh urteilen und ein dadurch vorbelastetes Unterbewusstsein schaffen. So auch im Zusammenhang mit der laufenden Gesetzesrevision. Für die Zivis selbst finde ich den Songtitel «Only a pawn in their game» passender. Jeder jetzige und zukünftige Zivi sträubt sich in seiner eigenen Art dagegen, nur eine meinungslose und manipulierbare Figur im Spiel des Lebens zu sein. Dafür bin ich ihnen dankbar.