Grundlegende Reformen statt alte Denkmuster

Der Dienst an der Gesellschaft muss aufgewertet werden. Das bringt mehr, als wenn Zivildienst und Armee gegeneinander ausgespielt werden. Ein Essay von Noémie Roten.

Die individuellere Lebensgestaltung, der erhöhte berufliche Druck und die Lockerung traditioneller Bindungen setzen das Milizsystem unter Druck. Diese Entwicklungen hatben nicht nur dazu geführt, dass sich immer weniger Bürger im Milizsystem engagieren, sondern auch Spuren in der Institution der Wehrpflicht hinterlassen. Davon ist die Armee auch betroffen. Eine Illustration Beispiel: in der 2015er-Kohorte der 89‘000 18-Jährigen, die zur ständigen Wohnbevölkerung der Schweiz gehören, wären grundsätzlich 40% (bzw. 36‘100 Männer mit Schweizer Pass) von der Wehrpflicht betroffen. Angesichts einer Tauglichkeitsrate von 65% wurden aber nur ca. 23‘000 rekrutiert. Bezogen auf alle 18-Jährigen (inklusive Frauen und niedergelassene Ausländer) entspricht das einem Anteil von 25%. Das heisst: Nur mehr jeder vierte wird überhaupt eingezogen. In der Folge muss diese Minderheit der Einberufenen – zumeist junge Männer – mit wachsenden Nachteilen auf dem Arbeitsmarkt rechnen, konkret gegenüber all jenen, die keinen Dienst leisten. Neben den Wehrpflichtbefreiten sind das die Frauen und die ausländischen Staatsangehörigen.

Mit der Globalisierung hat der Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt zugenommen, besonders im Segment der höheren Qualifikationen. Unternehmen, die mehrheitlich auf internationalen Märkten tätig sind, haben oft eine gleichgültige Haltung gegenüber der Wehrpflicht und betonen vor allem die Kostenseite. Ein Beispiel, das in Genfer Militärkreisen für Empörung sorgte, war die Stellenausschreibung eines Unternehmens, das die Bewerbung noch wehrpflichtiger Männer ausdrücklich ausschloss. Aus der Sicht eines Unternehmens, das in der Schweiz bereits mit relativ hohen Arbeitskosten konfrontiert ist, kann es durchaus verlockend sein, sich Kandidaten zuzuwenden, die nicht (oder nicht mehr) dienstpflichtig sind; vor allem, wenn man in Betracht zieht, dass mehr als 60% gar nicht von der Wehrpflicht betroffen ist.

Durch die Herabsetzung des Dienstpflichtalters auf 34 Jahre sind es vor allem die jüngeren Rekruten, die heute mit Nachteilen auf dem Arbeitsmarkt rechnen müssen. Ihre Neigung, sich vom Militärdienst abzuwenden, wird dadurch womöglich noch verstärkt. Wer könnte es den jungen Männern verdenken? Im November 2017 genehmigte der Bundesrat verschiedene Massnahmen, die die Hürden für die Zulassung zum Zivildienst erhöhen und die Zahl der Zivildienstgesuche nach der Rekrutenschule reduzieren sollen. «Für die nachhaltige Sicherstellung der personellen Alimentierung der Armee» wurde das Eidgenössische Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung ausserdem damit beauftragt, bis Herbst 2018 eine Vernehmlassungsvorlage zu einer Zivildienstgesetzrevision auszuarbeiten. Es ist ein altes Denkmuster, wenn man dem Zivildienst unlauteren Wettbewerb gegenüber der Armee vorwirft. Aber anstatt das Problem bei der vermeintlich «überhöhten Attraktivität» des Zivildiensts zu suchen, wäre es vernünftiger, über eine grundlegende Reform der Wehrpflicht nachzudenken. Eine Reform, die sich stärker an den Bedürfnissen einer modernen Gesellschaft orientiert.

Hier setzt die Idee eines Bürgerdienstes an. Avenir Suisse hat bereits vor einiger Zeit vorgeschlagen, die heutige Wehrpflicht durch einen allgemeinen Bürgerdienst zu ersetzen, der Schweizer und Schweizerinnen, aber auch in der Schweiz niedergelassene Ausländer betreffen würde. Die Dienstbereiche könnten erweitert werden und würden neben klassischen militärischen Aufgaben (die Bestände der Armee blieben garantiert) zivile und soziale Tätigkeiten umfassen, wie z.B. die freiwillige Feuerwehr oder politische Mandate. Das Dienstalter, während dem die 200 bis 260 Diensttage geleistet werden müssen, könnte sich von 20 bis 45 Jahre oder gar bis 70 erstrecken, um die Aufgaben der nationalen Sicherheit zwischen den Generationen besser zu verteilen. Die Einführung eines solchen Bürgerdienstes würde der viele Jahre dogmatisch praktizierten, aber wenig zielführenden Abgrenzung zwischen «Zivilisten» und Armeeangehörigen ein Ende setzen. Es ginge nicht mehr darum, «die Armee attraktiver zu machen» oder «den Zivildienst gegenüber der Armee abzuwerten», sondern nur mehr um die Aufwertung des Diensts an der Gesellschaft.

Das heutige Modell der Wehrpflicht erlaubt es zwar den Frauen, freiwillig in der Armee zu dienen – im Jahr 2017 waren es immerhin 1152 . – Vom ihren Zugang zum Zivildienst bleiben siewird aber ausgeschlossenverhindert : Der Zivildienst steht heute nur Personen offen, die zuvor für diensttauglich erklärt wurden. Frauen werden nur auf freiwilliger Basis in die Armee aufgenommen. Um in den Zivildienst aufgenommen zu werden, muüsste sich eine Frau also zunächst freiwillig zum Militärdienst melden, um danach den Tatbeweis auf sich nehmen, um zu beweisen, dass sie einen solchen nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren könne – ein gewissermassen schizophrenes Vorgehen. Diese höheren Zugangsbarrierer fehlende Zugang der Frauen zum Zivildienst (fast ausschliesslich von Männern dominiert) ist in einer Zeit, in der die traditionelle Rollenverteilung zwischen Mann und Frau obsolet geworden ist, nicht mehr gerechtfertigt. Ein Bürgerdienst für Frauen und Männer würde die gesellschaftliche Entwicklung endlich auch im Milizsystem nachvollziehen.

Letztlich käme dieses neue Modell auch der Schweizer Armee zugute, weil ihr Rekrutierungspool erheblich vergrössert würde und die spezifische Qualifikation des Personals wieder an Bedeutung gewänne. Somit könnten für alle Funktionen die am besten Geeigneten ausgewählt werden – unabhängig von Alter und Geschlecht.

Die Einführung eines Bürgerdienstes würde den Geist eines Schweizer «Bürgerstaats» neu beleben, weil er die Beteiligung aller Bürgerinnen und Bürger an öffentlichen Angelegenheiten voraussetzt und Verantwortungsgefühl sowie Engagement für das Gemeinwohl verlangt. Ein Milizsystem, das Männer und Frauen aktiv und auf allen Stufen der Gesellschaft einbindet, gewährleistet das Funktionieren der direkten Demokratie und bildet letztlich die Grundlage für den nationalen Zusammenhalt.

 

Noémie Roten ist zurzeit als Researcher bei der Avenir Suisse tätig. Sie ist u.a. Soldatin in der Schweizer Armee und Vizepräsidentin von servicecitoyen.ch, einen Verein den sich mit der Einführung eines Bürgerdienstes beschäftigt.